Vor über zehntausend Jahren ritzten und bemalten die Bewohner die Wände ihrer Behausungen und verpassten damit dem heutigen Brasilien eine erste und noch immer einzigartige Identität. In der Serra da Capivara im Nordosten Brasiliens kann man die Felszeichnungen auch heute noch bewundern. Das archäologische Unikat bietet jedoch nicht nur einen Blick in die Vergangenheit. Der Nationalpark im trockenen Bundesstaat Piauí eignet sich auch für all diejenigen, die in die Welt der Abenteuer-Reisen in Brasilien eintauchen und zeitgleich die lokale Geschichte hautnah erleben wollen.
Auch wenn das Alter der Felszeichnungen stark variiert und gleich mehreren Völkern zugeordnet wird, die Fülle, der Detailreichtum und die Ausarbeitung ist atemberaubend. Unter Felsvorsprüngen vor Wind und Regen geschützt haben sich die Bildnisse uralter Rituale und Jagdmethoden teilweise perfekt erhalten. So farbenfroh, als seien sie erst vor wenigen Jahren hinterlassen worden. Dabei sollen die Bildnisse bis zu 14.000 Jahre alt sein. Die Spuren menschlicher Anwesenheit werden sogar auf bis zu 50.000 Jahre datiert. Dies wirft allerdings sämtliche bisherigen Erkenntnisse und Forschungen über die Besiedlung des amerikanischen Kontinenten über den Haufen und sorgt bei Archäologen für eine nicht enden wollende Diskussion.
Seit der Veröffentlichung der Ergebnisse wird daher weltweit über die Zahlen aus dem Nordosten Brasiliens mehr oder minder gestritten. Vielleicht liegt hier in der trockenen Steppenlandschaft des Sertão tatsächlich die Antwort auf die Frage, ob die Theorie der „Einwanderung“ über die Beringia-Landbrücke im heutigen Alaska vor gut 10.000 Jahren noch haltbar ist. Oder ob nicht doch andere Volksgruppen bereits früher über das Meer kamen und sich auf dem bislang unentdeckten Kontinenten niederließen. Wissenschaftlich ist für Brasilien dabei von den Völkern der Nordeste und Agreste die Rede. Während die Zeichnungen der Nordeste Menschen, Tiere, Pflanzen und geometrische Formen darstellen und sich davon ein Bild ihrer Gesellschaft und deren Rituale gewinnen lässt, die Tänze, Sexualität oder die Jagd betreffen, zeigen die Malereien der Agreste hauptsächlich Menschen.
Über 30.000 Zeichnung an 173 Fundstellen wurden bislang entdeckt. Viele davon können im 1979 eingerichteten Nationalpark besucht und persönlich in Augenschein genommen werden. Der Besucher kann auf dem über 100.000 Hektar großen Gelände zudem ausgiebig wandern und klettern. Ein ortskundiger Führer ist dabei jedoch vorgeschrieben, schließlich soll sich niemand in dem weitläufigen Park bei den fast immer tropischen Temperaturen verlaufen. Wasserstellen gibt es dort genauso wenig wie ausgeschilderte Wege. Nur unweit des Parkeingangs, wo sich auch ein Kiosk und ein kleines Museum befinden, wurde eine entsprechende Infrastruktur mit Treppen und Stegen errichtet. Viele Zeichnungen befinden sich heute nach Bodenerosionen in mehreren Metern Höhe und wären daher nun gar nicht mehr für den Besucher zu entdecken. Doch durch die Stege können auch Schulklassen oder mobilitätsbehinderte Menschen beispielsweise den ersten Kuss Amerikas mittlerweile bequem in Augenschein nehmen.
Gedränge muss man dabei eigentlich nie befürchten. Die etwas abgelegene Region im Hinterland hofft seit Jahren zwar auf touristischen Aufschwung, die Besucherzahlen halten sich allerdings weiterhin in Grenzen. Dass der nächste Flughafen gut 300 Kilometer entfernt ist, dürfte massiv dazu beitragen. Zwar sind die Felszeichnungen bereits 1991 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden, zu mühselig ist jedoch für das breite Publikum die Anreise in das faszinierende Ökosystem der Caatinga. Dieser Name stammt aus dem indianischen und bedeutet „weisser Wald“ als Beschreibung des silbrig-grauen Anblicks der niedrigen Bäume und Sträucher der Region, die in der Trockenzeit zum Überleben sämtliche Blätter abwerfen.
Die in der Nähe der Parks gelegene Kleinstadt São Raimundo Nonato besticht aufgrund der überschaubaren Besucherzahl daher auch eher durch ländlichen Charme als durch Souvenirgeschäfte. Lediglich im vor gut 30 Jahren eingerichteten und erst kürzlich modernisierten „Museum des Menschen Amerikas“ findet man T-Shirts oder rustikales Tongeschirr mit den markanten Felszeichnungen. Die Tassen, Teller und Schüsseln werden ganz in der Nähe gefertigt und bieten zumindest einigen Familien der Region ein Auskommen mit den Schätzen der Vergangenheit. Die Touristen können so ein authentisches Stück erlebte Geschichte mit nach Hause nehmen – tief aus dem Hinterland eines ganz anderen und so abenteuerlich wirkenden Brasiliens.